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Musikwissenschaftliche und theologische Perspektiven für die Zang-Forschung

Michael Heckmann

Kurzvortrag bei der Gründungsveranstaltung der Johann-Heinrich-Zang-Gesellschaft am 19. Januar 1986 in Mainstockheim

Lassen Sie mich, der ich das Vergnügen hatte, die ersten beiden öffentlichen Wiederaufführungen von Kantaten des Mainstockheimer Kantors Zang zu betreuen und zu leiten, einige Bemerkungen aus der Sicht des Musikers und Theologen zu diesem Thema anfügen.

In den letzten Jahren hat sich in der Musikwissenschaft der Blick geweitet, geweitet über die unmittelbare Erforschung des Lebens und Werkes des großen Thomaskantors Johann Sebastian Bach hinaus. Wir haben erkannt, dass ungeachtet seiner Einmaligkeit Bach nicht zu verstehen ist ohne die vielen Vorgänger, Zeitgenossen und Nachfolger. Die Verblüffung war nicht gering, als man neben der Rose Bach noch eine ganze Reihe schöner kompositorischer Blumen am Wegesrand entdeckte.

Zu diesen Entdeckungen der letzten Jahre zählen Namen wie Gottfried Heinrich Stölzel, Christoph Graupner in Darmstadt, Gottfried August Homilius in Dresden, auch die Bachsöhne, Carl Philipp Emanuel und der Altersgenosse Zangs, Johann Christoph Friedrich, der sog. Bückeburger Bach, dessen Werke, etwa das Oratorium „Die Kindheit Jesu“, verblüffende Ähnlichkeiten mit den Kantaten Zangs aufweisen. Ein Augenmerk gilt in neuerer Zeit auch Joh. Seb. Bachs Meininger Vetter Johann Ludwig Bach.

Was dabei herauskommen kann, wenn erst einmal gezielt nach bestimmten Komponisten gefahndet wird, zeigt ein Fall aus den letzten Jahren in Frankfurt am Main:1 Im Stadtarchiv wurde ein alter Schrank ausgeräumt und geordnet. Unter den Utensilien fand sich eine Menge handgeschriebener Notenblätter. Sie erwiesen sich als bisher unbekannte Kantaten des Meininger Kantors Johann Ludwig Bach.

So ähnlich könnte es auch der Zang-Gesellschaft ergehen. Man musste bei dem Frankfurter Fund fragen: Wie kommen Kantaten aus Thüringen nach Frankfurt? Die Erklärung ist, dass Johann Ludwig Bach sie entweder nach Frankfurt verliehen hat, oder sie jedenfalls in einer Abschrift, wahrscheinlich durch Telemann, nach Frankfurt gelangten. Auch von Zang wissen wir, dass er seine Kantaten an andere Kirchen, wohl vor allem im süddeutschen, südwestdeutschen Raum ausgeliehen hat.

Wo sind die 93 Kantaten geblieben, die wir bisher noch nicht gefunden haben? Ich schätze die Möglichkeit weiterer Funde nicht gering ein. Vielleicht liegen sie auf den Dachböden einiger Kirchengemeinden. Eine wichtige Aufgabe der Zang-Gesellschaft muss sein, die Spuren dieser Kantaten wieder zu finden und sie der Öffentlichkeit zugänglich zu machen.

Denn auch Johann Heinrich Zang gehört in das Umfeld des Thomaskantors Johann Sebastian Bach. Nach einer Nachricht war Zang sogar für kurze Zeit sein Schüler. Ich habe zur weiteren Klärung dieser Frage auf einem internationalen Symposium in Wien Kontakt mit einem Referenten der Nationalen Forschungs- und Gedenkstätte Bach der DDR in Leipzig aufgenommen, die sich mit den Bachschülern beschäftigt. Eine Untersuchung der dort vorhandenen Quellen Zang betreffend wurde mir zugesagt.

Ungeachtet dieser Detailfrage weisen natürlich einige Auffälligkeiten in den Umkreis der Stadt Leipzig. Wer in die Kantaten Zangs hineinhört, der stellt fest, dass Zang noch in für seine Zeit erstaunlichem Maße über die Fähigkeit verfügt, Fugen zu schreiben. Wie bekannt ist, hat ja selbst Mozart die Fugentechnik an den Motetten Joh. Seb. Bachs studiert.2 Gleichwohl ist zu sagen, dass es sich bei Zang in keinem Fall um ein musikalisches Plagiat des Thomaskantors handelt.

Das faszinierende an der Musik Zangs ist ja gerade, wie er die alten kontrapunktischen Techniken verbindet mit der besonderen Kantabilität, der gefälligen Sanglichkeit im Sinne des zur Zeit Zangs aufgekommenen „empfindsamen Stils“, der ja auch an den Bach-Söhnen keineswegs spurlos vorübergegangen ist.

In die Nähe des Leipziger Thomaskantors weist auch die Behandlung der Rezitative bei Zang, Übergänge vom Secco-Recitativ zum Arioso. Das ausinstrumentierte Secco aus dem Ostertriumph: „Das Lamm ist nun ein Löwe worden“ weckt deutliche Anklänge an Bachsche Werke, wenngleich auch hier deutlich festzuhalten ist, dass Zang zu einem eigenwilligen Personalstil beim Komponieren gefunden hat.

Auf dem Gebiet der Werkanalyse sind dringend Untersuchungen der Zangschen Kantaten fällig, eine Aufgabe, der sich die Zang-Gesellschaft widmen sollte.

Aber auch auf theologischem Gebiet gibt es viel zu erforschen. Die Bachforschung hat in den letzten Jahren dabei Erstaunliches zutage gefördert, über das gottesdienstliche Leben zur Zeit Bachs, über die Frömmigkeit Bachs, schließlich auch über die Vorlagen der Texte zu den Kantaten Bachs. So konnten z.B. für die Bachsche Matthäus-Passion als Textvorlage Predigten eines Pfarrers entdeckt werden.3 Braucht es einen schlagenderen Beweis, dass Kantaten musikalische Predigten sind?!

Auch für Zangs Werk ist die Frage nach den Textvorlagen von Belang, weisen doch auch da einige Beobachtungen in das Leipziger Umfeld. So heißt es z.B. in der Bachkantate zum Osterfest BWV31: „Du musst geistlich auferstehen und aus Sündengräbern gehen“. Im „Ostertriumph“ bei Zang: „Lass uns geistlich auferstehen, aus dem Sündengrabe gehen“. Welches ist der gemeinsame Bezugspunkt in der Theologie zwischen Bach und Zang? Einer ist ja bereits deutlich: Bach schrieb über seine Partituren: „Jesu hilf“. Zang notiert zu Beginn des Evangelischen Zion zum Fest der Geburt Jesu, der Weihnachtskantate: „Im Namen Jesu“.4

Erstaunlich ist auch die theologische Richtung der Kantatentexte bei Zang und Bach: Günther Stiller hat in einer Untersuchung sehr schön gezeigt, wie in einer Zeit der beginnenden Aufklärung Leipzig als eine der ganz wenigen Enklaven der lutherischen Orthodoxie mit einem ausgeprägten Frömmigkeitsleben übrigbleibt. Ähnliches scheint für Mainstockheim zu gelten. Findet sich doch in einer Kantate Zangs ähnlich wie in den Bachschen Kantaten eine Warnung vor der zu hohen Bewertung der menschlichen Vernunft gegenüber dem Glauben.5

Was sind die gemeinsamen Wurzeln der Kantatentexte in Leipzig und in Mainstockheim? Die Zang-Gesellschaft sollte es erforschen.

Lassen Sie mich zum Schluss noch einmal die Bedeutung des Wirkens des Kantors J. H. Zang in Mainstockheim unterstreichen.

Zu einer Zeit, in der der berühmte Bach-Sohn Carl Philipp Emanuel Bach in Hamburg Musikdirektor der Hauptkirchen und damit für die Kirchenmusik in der Weltstadt zuständig ist, wirkt Zang in der Gemeinde Mainstockheim. Während Bach in Hamburg äußerste Mühe hat, einigermaßen anständige kirchenmusikalische Aufführungen in der Hansestadt zustande zu bringen, musiziert Zang in der kleinen Gemeinde Mainstockheim 14-tägig/monatlich seine Kantaten. Er wird gewusst haben, der Johann Heinrich Zang, warum er den Ruf einer Universität zum Schreiber genauso ausschlug wie einen Ruf an einen Fürstenhof als Hofmusicus und statt dessen Mainstockheim die Treue hielt.

Wir brauchen die Erforschung des Zangschen Werkes, wir brauchen dafür die Zang-Gesellschaft. Der Mainstockheimer Kantor Zang wird uns bereichern in unserem Musizieren, für unseren Glauben, für unser Leben.


Fußnoten:
  1. vgl. zum Folgenden Conrad Bund: „Johann Ludwig Bach und die Frankfurter Kapellmusik“ im Bach-Jahrbuch 1984, S. 117-125[]
  2. vgl. hierzu Wolfgang Hildesheimer: „Mozart“, Suhrkamp Taschenbuch, Frankfurt 1980, S. 256; Albert Schweitzer: „Johann Sebastian Bach“, Leipzig 1977, S. 209[]
  3. Diese Entdeckung verdanken wir der Forscherin Elke Axmacher. Vgl. die Würdigung ihrer Forschungsergebnisse durch Lothar und Renate Steiger in dem Aufsatz: „Die theologische Bedeutung der Doppelchörigkeit in Johann Sebastian Bachs ‘Matthäus-Passion’ ” in „Bachiana et alia musicologia, Festschrift Alfred Dürr zum 65. Geburtstag“, Kassel, Basel, London, New York 1983, S. 276[]
  4. Dass es sich bei der Voranstellung dieser Formel auch bei Zang nicht um eine bloße Formel handelt, zeigt ein kurzer Abschnitt aus der Vorrede Zangs zu seinem Orgelbaubuch: „Eben so wäre noch vieles von den Kirchen-Musiken zu sagen, die man in hiesigen Gegenden, so wohl in Landstädten, als auf Dörfern zu machen pflegt, wo man sich kein Bedenken daraus macht, eine Opernarie zu nehmen, und einen Text darüber zu schreiben, der oft der Composition als Poesie nach, wie eine Faust auf das Auge passt: allein ich will es andern Männern überlassen, welche Lust dazu haben, und nur noch bemerken, dass der Ausspruch des Titi Vespasiani: Wenn Tempel und Gottesdienst dahin sind, so bedarf man der Priester, mithin der Kirchen-Musik nicht mehr, bald in Erfüllung zu gehen scheint.“[]
  5. Günther Stiller: „Johann Sebastian Bach und das Leipziger gottesdienstliche Leben seiner Zeit“, Berlin (DDR) 197[]